UNIT3 (Bachelor Thesis)

Ein experimentelles Mixed Reality Game

Videospiele werden nicht in Bildschirmen eingeschlossen sein; sie werden durch physische Objekten in die Realität erweitert. Das ist die Zukunft von Mixed Reality Games.

Zuständigkeiten

Recherche

Konzept

Interaction Design

Prototyping

Die Herausforderung: Computerspiele neu denken

Juli 2015 saß ich zusammen mit drei Kommilitonen im Café Chaos in Darmstadt. Wir grübelten über ein Thema unseres gemeinsamen Bachelor Projektes. Über ungelöste Probleme. Über nicht gut gelöste Probleme. Über die Zukunft. Wir redeten viel, hatten verrückte, gute und auch nicht so gute Ideen. Aber eine besondere Gemeinsamkeit teilten wir alle: wir waren und sind große Enthusiasten von vernetzten Objekten und vom Internet der Dinge. Als ich bei der ThingsCon'15 Ava Kai gesehen habe, war ich sofort fasziniert von der Idee einer simplen Holzfigur, die durch ein wenig Technik plötzlich magisch wirkt.

Ava Kai inspirierte uns, den Status Quo des "modernen Spielens" näher zu betrachten, kritisch zu beleuchten und ganz bewusst zu hinterfragen: Liegt in Videospielen der Zenit der Spielkultur? Sind Knöpfe auf Controllern alles was uns bleibt? Und sind virtuelle Realitäten tatsächlich eine akzeptable und unbedenkliche Neuentwicklung?

Diese Fragen brachten uns dazu, Videospiele neu zu denken, Bildschirme und virtuelle Realität kategorisch abzulehnen und unsere eigentliche Welt als Schauplatz zu bestimmen. Wir setzen uns als Ziel eine Spielumgebung zu entwickeln, die mithilfe von vernetzten Objekten in die Realität erweitert wird und so Grenzen zwischen Spiel und Realität bewusst verschleiert. Mit unserem Ansatz wollten wir beweisen, dass die Realität ein viel höheres Potential für Interaktion und Spiel bietet, als eine konstruierte Realität jemals in der Lage ist, zu leisten.

Das Problem: Virtuelle Realitäten sind eingeschränkt

Bevor wir uns an die gigantische Aufgabe setzen konnten, einen alternativen Weg für virtuelle Realitäten aufzuzeigen, mussten wir erst mal definieren, wo das eigentliche Problem von Videospielen und konstruierten Realitäten liegt. Um dieser Frage zu begegnen, haben wir eine lange Recherchephase vorangestellt. Fragen die wir uns stellten waren unter anderem, wieso Menschen überhaupt spielen und wie die Begeisterung in fiktive Welten begründet wird. Storytelling hat sich hierbei als eines der wichtigsten Kernpunkte herauskristalisiert.

Wir verstanden, dass in digitalen Computerspielen eine Dualität zwischen dem Menschen als Geschichtenerzähler und Zuhörer existiert: einerseits ist der Mensch derjenige, der Entscheidungen trifft und die Geschichte schreibt, andererseits ist er Gefangener der Geschichte eines Fremden. Der virtuelle Raum des Spiels, in dem er sich befindet, erzählt die fremde Geschichte und ist gleichzeitig der Gegenspieler zum Menschen. Denn der virtuelle Raum gibt vor, wie viel der Geschichte von dem Menschen geschrieben werden kann.

Als Ursache identifizierten wir, dass es nur bedingt möglich ist, mit virtuellen Welten zu interagieren. Ein Computersystem ist nicht in der Lage auf alle möglichen Entscheidungen des Menschen zu reagieren und gleichzeitig kann der Mensch nicht zu vollem Umfang mit dem gesamten Körper in die Welt eintauchen. Das Problem dabei liegt in erster Linie darin, dass der Fokus der meisten Computerspiele auf der virtuellen Welt liegt. Damit schränken Computerspiele potentielle Interaktionen ein und begrenzen sich selbst.

Klassisches Videospiel-Interface

Controller jeglicher Form ermöglichen es mit der virtuellen Welt zu interagieren und transportieren uns so mental in die Spielwelt.

Die Lösung: Realität erweitern, statt neu entwickeln

Um einen Lösungsvorschlag für das identifizierte Problem zu finden, aber die Vorteile von virtuelle Welten zu konservieren, schauten wir uns verschiedenen Formen von Spielen an. Dabei stießen wir auf ein besonderes Genre – das der Pervasive Games.

Das Prinzip von Pervasive Games kann als geeigneter Ansatz betrachtet werden, die Vorteile digitaler Spiele und der eigentlichen Realität zu einem neuen, gehaltvolleren Spielerlebnis zu vereinen. Pervasive Games schaffen durch das Nutzen verschiedener Methoden eine alternative Realität, die eng mit der tatsächlichen Realität des Spielers verwoben ist.

Wir haben dieses Genre deshalb als geeignetes Feld für unsere Hypothese herangezogen, weil es prinzipiell das gleiche Ziel verfolgt wie die virtuelle Realität: nämlich Menschen in eine andere Welt zu entführen und ihnen neue Möglichkeiten zu verleihen. Im Gegenteil zur virtuellen Realität versuchen Pervasive Games dies jedoch unmittelbar in der tatsächlichen Realität und beziehen somit unberechenbare Konstanten mit ein. Die Möglichkeiten an Interaktionen sind dadurch quasi unendlich.

Das Liminale Interface

In Pervasive Games ermöglichen Spielobjekte einen ständigen Wechsel zwischen realer und virtueller Welt, ohne die reale Welt körperlich oder mental zu verlassen.

Die Erzählwelt: Eine glaubhafte Fiktion

In sogenannten Live-Action-Role-Playing-Games (LARPs) werden Spieler dazu aufgefordert, eine fiktive Rolle anzunehmen und diese glaubhaft zu spielen. Um dies zu ermöglichen wird bei LARPs angestrebt, dass Umwelt und die eingebette Erzählwelt für die Spieler möglichst glaubhaft erscheinen.

Für UNIT3 war es uns wichtig, ein ähnliches Erlebnis zu schaffen. Anders als bei LARPs strebten wir allerdings an, dass das Spiel ständig und überall gespielt werden kann, ohne Ort und Zeitraum zu definieren. Die Erzählwelt von UNIT3 musste deshalb so gestaltet werden, dass sie mit unserer tatsächlichen Realität in Symbiose leben kann.

UNIT3 spielt deshalb in der Gegenwart und verläuft parallel zur jetzigen Zeit. Sie besteht aus der Perspektive der Spieler lediglich aus Bruchstücken von Informationen, die im Netz verteilt sind. Alles was die Spieler wissen, ist, dass ein Big-Data-Unternehmen Beweise für eine Intelligenz entdeckt hat, die im öffentlichen Netzwerk lebt. Das Unternehmen fordert Menschen aus aller Welt auf, dabei zu unterstützen, die künstliche Intelligenz zu erforschen. Hierfür werden spezielle Geräte verkauft, die es Menschen ermöglicht, mit der Intelligenz im öffentlichen Netzwerk zu interagieren und sie zu untersuchen. Über eine Software können die freiwilligen Forscher Teil des globalen Untersuchungsfortschritts werden.

Zeitgleich veröffentlichen Aktivisten Informationen über das mysteriöse Verschwinden der Wissenschaftlerin. Sie lassen vermuten, dass das Unternehmen ein falsches Spiel spielt und dubiose Pläne mit der künstlichen Intelligenz hat. Im Untergrund veröffentlichen die Aktivisten Hacks und selbst gebaute Kopien der Geräte. Somit entsteht ein Konflikt zwischen zwei Gruppierungen, die die Geschichte vorantreiben und selbst schreiben.

Die Spielwelt: Die Rolle der vernetzten Objekte

Die angesprochenen Geräte aus der Erzählwelt sind die wichtigsten Elemente von UNIT3. Mit ihnen ermöglichen wir es Spielern, zu spüren, was nur fiktiv und virtuell existiert: nämlich die künstliche Intelligenz. Damit sind wir in der Lage, den Glauben an die Erzählwelt zu stärken und gleichzeitig ein neues Spielerlebnis zu kreieren. Denn die Spieler befinden sich während der Nutzung der Geräte nicht in einem definierten magischen Kreis (also beispielsweise vor dem Bildschirm auf dem Sofa), sondern draußen – in einer realen Umgebung.

In UNIT3 existieren drei Spielgeräte, welche die Spieler in einer der drei Rollen eintauchen lässt: Echo, Transducer und Augmentor. Die Aufgaben der drei Rollen orientieren sich an den von Bartle definierten Spieltypen. Weil UNIT3 in der Öffentlichkeit gespielt wird, wurde die Interaktion der Spielgeräte auf ein Minimum reduziert. Die Interaktionen sind dabei an bekannten Spielmechaniken aus Minispielen angelehnt. Die Geräte kommunizieren mit dem Nutzer fast ausschließlich durch Vibrationsmotoren, um eine unauffällige Interaktion zu ermöglichen.

In der Spielwelt hat sich die künstliche Intelligenz im öffentlichen Netzwerk ausgebreitet und generiert dort Rechen-Cluster, wo eine erhöhte Aktivität im Netz zu finden ist (zum Beispiel viele Tweets an einem Ort). Diese Cluster können von Echo-Nutzern aufgespürt und markiert werden. Echo fungiert dabei ähnlich wie eine Wünschelrute. Hat Echo einen Cluster markiert, ist dieser für das Team (Freiwillige Forscher oder Aktivisten) freigeschaltet. Nutzer des Transducer können nun den Cluster entschlüsseln. Dabei funktioniert der Transducer nach dem Prinzip des Knackens eines Tresorschlosses. Nach dem Entschlüsseln, hat der Transducer den Cluster für das eigene Team eingenommen. Es generiert nun Rechenleistung für das Team, um zerstörte Dateien neu zu konstruieren und das Geheimnis der Erzählwelt zu lüften. Der Augmentor kann diesen Prozess beschleunigen, indem er den Cluster nach dem Prinzip von Simon Say's übertaktet.

Skizzen der Geräte

Verschiedene Entwürfe unserer drei Spielgeräte halfen uns, Interaktionen zu diskutieren und mit ähnlich geformten Objekten beispielhaft durchzuspielen.

Echo

The shape prototype of Echo

Transducer

Der Formprototyp des Transducer

Augmentor

Der Form-Prototyp des Augmentor

Ganz ohne Screen ging es doch nicht

Das Konzeptionieren und Einbetten der Spielgeräte in ein holistisches Gesamtkonzept entpuppte sich als schwere Aufgabe. Wir waren zwischendurch sogar so weit, unsere Prinzipien fallen zu lassen. Wir hatten eine (theoretisch) funktionierende Erzählwelt, funktionierende Spielmechaniken, funktionierende Spielobjekte und ein Regelsystem. Aber wie vermittelten wir den Spielern ihren Fortschritt sowie neue Elemente der Erzählwelt?

Unsere Lösung umfasste eine Software, die wir in die Erzählwelt einbetteten. Sie fungiert als virtuelle Forschungs-Zentrale. Schließen die Spieler ihr jeweiliges Gerät daheim am Rechner an, um es zu laden, können sie auf das "Gate" zugreifen und einsehen, was sie in den letzten Spielsessions erreicht haben. Gate stellt neutrale und von Feinden markierte und eingenommene Cluster auf einer Karte dar. So sind die Spieler in der Lage, nachzuvollziehen, was sie in der alternativen Realität geleistet haben.

In Gate können die Spieler außerdem live zuschauen, wie zerstörte Dateien von den eingenommenen Clustern rekonstruiert werden. So wird es den Spielmachern außerdem ermöglicht, aktiv am Spielgeschehen teilzunehmen, auf unerwartete Situationen mit erzählerischen Komponenten zu reagieren und der Welt einen Schubs zu geben, wenn es nötig wird.

Der Prototyp: Drei Geräte, eine Web-App

Um unser Konzept greifbar zu machen, haben wir funktionstüchtige Prototypen entwickelt, mit der die Grundmechanik des Spiels ausprobiert und getestet werden kann. Dafür war es notwendig, alle drei Spielgeräte und ihre zugrundeliegende Interaktion prototypisch zu entwickeln. Hierfür nutzten wir für jedes Gerät einen Spark Core, um über Hotspots eine einfache Konnektivität mit der Cloud zu ermöglichen. Zusätzlich zu den jeweiligen Aktuatoren und Sensoren verfügt Echo noch ein GPS-Sensor, um das aktive Suchen und Finden von Clustern im Außeneinsatz testen zu können.

Die Geräte kommunizieren bei Benutzung mit einem Web-Server der in einem definierten Raum Cluster generiert. Diese werden im Gate-Prototypen auf einer Karte dargestellt und ändern ihre Erscheinung, sobald der Echo-Prototyp am Cluster-Standort positioniert ist und die Interaktion zum Markieren durch den Nutzer getätigt wird. Erst dann kann der Transducer genutzt werden, um den Cluster zu entschlüsseln (das Muster hierfür wird bei jeder Spielsession zufällig gesetzt). Der Augmentor kann schließlich einen Highscore setzen, indem er die immer komplexer werdende Vibrations-Sequenz nachspielt. Der Highscore wird dann an den Webserver übermittelt.

Neben den technischen Prototypen, haben wir in Zusammenarbeit mit Industriedesignern Formprototypen aus Aluminium gestaltet und herstellen lassen. Diese wurden mit dem Ziel produziert, herauszufinden, ob Form und Größe ein ansprechendes Gefühl vermitteln und der Angebotscharakter korrekt wahrgenommen wird.

Echo Prototyp

Transducer Prototyp

Augmentor Prototyp

Visual Design von Gate

Gate hat einen subtilen Sci-Fi-Look, der passend zur Erzählwelt gewählt wurde.

Abschließende Gedanken

Wir haben UNIT3 mit dem Ziel konzipiert, virtuelle Spielwelten durch vernetzte Objekte in die physische Welt zu erweitern und somit eine "reale Virtualität" zu erzeugen. Damit wollten wir belegen, dass die technischen Limitierungen virtueller Welten den Menschen in seiner Entfaltung behindern können und die physische Welt eine bessere Umgebung zum Spielen und Erleben von Geschichten darstellt. Wir konnten aufgrund des eingeschränkten Zeitraumes von drei Monaten unsere Annahme nicht testen, aber haben mit UNIT3 dargestellt, dass eine potentielle Alternative zu virtuellen Realitäten existiert.

Auf der anderen Seite war es nur unter großem Aufwand möglich, den Spielern Methoden mitzugeben, um mit der Erzählwelt zu interagieren, ohne den Fokus auf einen Bildschirm zu legen. Die klassischen Erzählelemente des Mediums Spiel sind hierfür in das Gate gewandert und der Ansatz des Spielers als Autor, ist zentrales Merkmal geworden. Dennoch ist es dadurch erneut unausweichlich geworden, dass Spieler bildschirmbasierte Geräte benutzen, um sich auszutauschen und ihre Version der Geschichte zu erzählen. Das liegt daran, dass das Spiel in eine Welt eingebettet ist, in der Bildschirme inflationär genutzt werden. Wir haben im Verlauf des Projektes verstanden, dass es unsinnig ist, stur auf Bildschirme zu verzichten. Dennoch wollen wir mit dem Projekt dazu motivieren, digitale Spiele neu zu denken und ihnen die Möglichkeit zu geben, aus ihren viereckigen Rahmen auszubrechen. Aktuelle Technologie ermöglichen uns völlig neue Spielkonzepte, indem wir reale Objekte mit Software "erweitern". So können völlig neue, interessante Spielkonzepte entstehen, welche die Umwelt, die Objekte und die Menschen darin in das Spiel integrieren.